Dienstag, 11. August 2015

Führungskultur

Vollblüter werden häufig für Schwierig um Umgang gehalten. Durch ihre extrovertierte „Kommunikation“ können Sie den Reiter ganz schön fordern. Besonders dann, wenn der Vollblüter scheinbar völlig unkontrolliertes Verhalten an den Tag legt. Unter anderem lassen sich solche Situationen mit der richtigen Führungsstrategie bewältigen und diese führt letzten Endes auch dazu, dass sie immer seltener werden. Mehr noch ist eine gute Führungskultur die Grundlage für eine harmonische Pferd-Mensch-Beziehung.

Führungskultur in der Pferdeherde

Wer Vollblüter richtig Führen will, muss wissen, wie sich Pferde in einer Herde organisieren.
Über die Führungskultur eine Herde geistern noch immer falsche Vorstellungen in den Köpfen vieler Reiter rum. Die prominenteste Ansicht ist die Dominanz-Theorie - doch die ist aus ethnologischer Sicht fehlerhaft. Die Rangordnung verläuft innerhalb einer Herde nicht linear, sondern ist ein komplexes soziales Geflecht. Die Aufgaben innerhalb der Herde werden nach den jeweiligen Stärken der Herdenmitglieder aufgeteilt.
Die Leitstute besitzt aufgrund ihrer Lebenserfahrung am meisten Stärken. Deshalb folgt die Herde diesem Tier, weil es am ehesten für deren Überleben sorgen kann. Das mutige, aggressive Pferd verteidigt die Herde und ist dafür verantwortlich, dass keiner zurück bleibt. Dieses Pferd ist in der Regel der Leithengst. Es führt also nicht das Pferd, dass die anderen durch seine Dominanz und Aggressivität am besten unterdrücken kann, sondern dasjenige, welches am erfolgreichsten die Bedürfnisse der ganzen Herde decken kann. Pferde sind auch nicht grundsätzlich dominant gegenüber anderen, vielmehr dominieren sie in einer bestimmten Situation, um ihre individuellen Bedürfnisse durch zu setzen. Das tun auch rangtiefe Pferde, das macht sie jedoch noch lange nicht zum Leittier der ganzen Herde. Die Rangordnung ist zudem stetigen Wechseln unterworfen. So kann eine Stute höher im Rang sein, sobald sie ein Fohlen bei Fuss hat. Freundschaften zwischen zwei Pferden sind rangunabhängig. Bestehen in der Beziehung des Reiters zu seinem Pferd Probleme, sind diese nicht wie vielfach propagiert auf fehlende Dominanz (Aggressivität) und Rangstellung des Reiters zurück zu führen. Eine Rangordnung ist ohnehin nur dort Sinnvoll, wo es um den Kampf um Ressourcen geht und dieser besteht in der Pferd-Mensch-Beziehung nicht.

Nichts desto trotz brauchen Vollblüter eine vertrauenswürdige Führperson. Jedoch keine dominante, sondern eine souveräne Persönlichkeit. Es sind nämlich die wenigsten Pferde, die eine Führungsposition für sich in Anspruch nehmen wollen. Viel eher haben die Meisten das Bedürfnis, sich einer souveränen Führperson anzuschliessen. Die Ursache für Probleme ist kann ein Reiter sein, der seine Rolle als Führperson nicht wahrnimmt.
Gerade Vollblüter frisch ab der Rennbahn haben einen besonderen Anspruch auf Führung. Es sind mehrere Faktoren, mit denen Vollblüter am Anfang ihrer Reitpferdekarriere konfrontiert werden und die Unsicherheit auslösen können. Es sind meist junge Pferde, die aus dem Rennsport ausgemustert werden und an die viele neue Anforderungen gestellt werden.
Dies kann bei Vollblütern erstmals Abwehrverhalten auslösen, was nicht bedeutet, dass der er keine Lust hat oder Stur ist. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Führperson auch wirklich vertrauenswürdig ist. Der Ausbilder ist hier in der Pflicht, diesem Umstand Rechnung zu tragen und dem Vollblüter die Unsicherheit zu nehmen.

Führen in der Praxis

Basierend auf den oben genannten Gründen bedeutet dies für den Ausbilder einen konkreten Führungsanspruch, den der Vollblüter an diesen stellt. Hier sechs wichtige Aspekte einer guten Führungskultur:
  • Der Ausbilder sollte Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben, dennoch aber Kritikfähig bleiben und eine gute Fehlerkultur haben. Für den Vollblüter spielt letzten Endes keine grosse Rolle, ob er nun etwas zuviel Abstellung im Schulterherein hat, so lange der Reiter dies im Moment überzeugend rüberbringt und sich beim nächsten Mal korrigiert. 
  • Ruhe bewahren ist eine der wichtigsten Eigenschaften im Umgang mit Vollblütern. Egal wie nervös oder schwierig der Vollblüter in seinem Verhalten ist, der Reiter sollte stets der ruhende Pol in der Pferd-Mensch Beziehung sein. Der Vollblüter wird sich mit der Zeit der Ruhe des Reiters angleichen (siehe Übungen für mehr Gelassenheit). 
  • Souverän zu sein bedeutet, Situationen vorausschauend im Griff zu haben aber auch in Überraschungsmomenten besonnen zu handeln. Das heisst, der Reiter bleibt in jeder Situation aufmerksam und übernimmt die Verantwortung. Souverän bedeutet für den Vollblüter auch, dass er den Reiter einschätzen kann, weil dieser stets gleich reagiert. Er bleibt also für das Pferd transparent.
  • Führung beginnt beim Anhalftern und endet erst beim Zurückführen in den Stall. Der Ausbilder muss von Anfang an seine Führposition wahrnehmen und nicht erst auf dem Platz bei den Führübungen. 
  • Vollblüter fordern zudem eine sensible Führung. Sie lassen sich nicht durch übermässigen Druck zu Handlungen zwingen. Für den Reiter bedeutet dies, den Vollblüter über seine Motivation abzuholen, aber auch konsequent etwas einzufordern, in dem er hartnäckig dranbleibt. 
  • Ebenso von Bedeutung ist die innere Einstellung des Reiters. Er sollte vor allem selbst keine Angst haben, sondern stets überzeugt sein von der Machbarkeit seines Vorhabens. Ausserdem hilft es, wenn man potenzielle Gefahrensituationen als normal deklariert. Dies in dem man z.B. das Kreuzen von Lastwangen als Alltagsgeschäft betrachten und nicht als spezielle Situation. Auch wenn der Vollblüter dieses Situation am Anfang beängstigend finden sollte, vertritt die Führperson grundsätzlich die Haltung, dass ein schepperndem Anhänger völlig normal ist. Dies bedeutet, dass der Reiter Gefahren zwar registriert, diesen aber nicht weiter Beachtung schenkt. Macht der Reiter ein Aufheben um die Sache macht das Pferd automatisch mit. Passiert man Gefahren jedoch mit einem inneren Schulterzucken, wird der Vollblüter vielleicht noch ausweichen, sich aber genauso schnell wieder beruhigen. 
  • Der Vollblüter soll sich am Reiter orientieren, also auch an dessen Tempo. Viele Reiter machen den Fehler, dass sie sich automatisch anpassen, wenn das Pferd z.B. langsamer wird. Sie lassen sich unbewusst durch das Pferd steuern und reagieren erst, wenn das Pferd bereits steht. Häufig blickt dieser dann auch noch in Richtung Pferd, sobald dieses sich weigert, etwas zu passieren. Der Reiter sollte sich an den Grundsatz halten, dass der Vollblüter sich stets Ihm anpasst und nicht umgekehrt. Der Reiter achtet also auf sein Tempo und treibt den Vollblüter nötigenfalls nach, stets mit Blick zur Zielrichtung.

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